Die Moral ist der Hobbit
Hobbits sind jene Wesen, die Abenteuer schon deswegen scheuen, weil sie nicht wissen können, ob sie bis zum Mittagessen wieder zu Hause sind. Mit ihrem kindlichen Gemüt und ihrer geringen Körpergröße sind sie ohnehin denkbar schlecht geeignet für Gefahren. Die Hobbits sind Teil des vom englischen Sprachforscher J.R.R. Tolkien erdachten Fantasy-Universums Mittelerde. Gewissermaßen sind sie als Gegenentwurf zu uns Menschen konzipiert. Wenn unsere Leidenschaften schon längst zu Gewalt, Raub und Mord geführt hätten, setzen sich die selbstgenügsamen Hobbits für einen gerechten Ausgleich ein. Wer zufrieden ist mit dem, was er hat, muss nicht den Besitz des Anderen neiden.
Als das Buch „Der kleine Hobbit“ 1937 erstmals in England im Verlag George Allen & Unwin erscheint, ist es noch ein Kinderbuch. Erst der große Erfolg der später erschienenen Fantasysaga „Der Herr der Ringe“ veranlasste Tolkien, einzelne Passagen des Buchs zu überarbeiten. Es handelt von dem Hobbit Bilbo Beutlin, der von einem Magier und dreizehn Zwergen zu einem Abenteuer bewegt werden kann. Bilbo ist der Großvater von Frodo, dem Ringträger aus „Der Herr der Ringe“. Bei dem Magier handelt es sich um den ebenfalls bekannten Gandalf und die Schar der Zwerge wird angeführt von Thorin, einem Zwergenkönig ohne Königreich. Gemeinsam wollen sie losziehen, um einen alten Schatz aus den Klauen des schrecklichen Drachens Smaug zu befreien. Der kleine Hobbit wurde von Gandalf ausersehen, die Gruppe als Dieb zu verstärken, was er noch weniger glauben mag als die fassungslosen Zwerge.
Gollums Premiere
Wer mit Tolkiens Werk vertraut ist, wartet auf Gollum und den „Einen Ring“. Schon im fünften von neunzehn Kapiteln trifft Bilbo auf beide. Eben erst wurde er auf der Flucht vor Orks in den dunklen, endlosen Gängen des Nebelgebirges von seiner Gruppe getrennt. Als er anschließend allein umher irrt, findet Bilbo den Ring wie zufällig. Mit Hilfe des Rings gewinnt Bilbo kurz darauf einen Rätselwettbewerb gegen Gollum. Bekanntermaßen macht der Ring seinen Träger unsichtbar, so dass Bilbo ungesehen aus dem unterirdischen Labyrinth entkommen kann. Anders als bei „Der Herr der Ringe“ hat der Ring mildere, weniger furchteinflössende Nebenwirkungen. Der Träger wird weder in eine dunkle Parallelwelt entrückt, noch von bösen Feueraugen und dessen dunklen Dienern verfolgt.
Diese Brüche mit Tolkiens viel bekannterem Werk erklären sich, wenn man weiß, dass die knapp 300 Seiten von „Der kleine Hobbit“ knapp 20 Jahre vor „Der Herr der Ringe“ erschienen sind. Tolkien wusste zu der Zeit, als er „Der kleine Hobbit“ für seine Kinder schrieb, nicht, dass er das Buch quasi fortsetzen und welch wichtige Rolle der Ring und Gollum darin einnehmen würden. Gollum zum Beispiel taucht bis zum Ende der Geschichte nicht mehr auf.
Große Zufälle, große Erzählfreude
„Der kleine Hobbit“ wurde als Abenteuerbuch für junge Leser geschrieben und steht dem Märchen nahe. Wieso sonst sollte eine Auseinandersetzung durch Rätselraten und nicht durch Waffengewalt ausgetragen werden? Darüber hinaus können alle Tiere sprechen – wenngleich sie nicht jeder verstehen kann. Und auch der glückliche Zufall ist Bestandteil dieser Erzählung. Einmal sitzen die Helden ziemlich hilflos auf Bäumen, während unten Orcs auf Wölfen die Bäume in Brand setzen. Die unerwartete Rettung naht durch freundliche Adler. Solche Situationen gibt es einige. Kinder lieben solche Erzählungen: alles scheint schon verloren und dann naht die unverhoffte Rettung. Natürlich ist die Rettung in letzter Sekunde ein feststehender Bestandteil aller Abenteuerromane oder Filme – aber Erwachsene erwarten mehr erzählerische Stringenz, Kinder dagegen freuen sich noch über kleine Wunder.
Das entscheidende Merkmal der Erzählung ist jedoch die Erzählfreude Tolkiens. Immer wieder schweift er von der Geschichte ab, kommentiert die Reise der Helden durch in Klammern gefasste Einschübe, spricht den Leser direkt an (wie es auch bei Einschlafgeschichten für Kinder geschieht) oder erzählt mittendrin, wie die Geschichte enden wird. Die Geschichte tritt einen Schritt zurück und das Erzählen der Geschichte zwei Schritte vor. Diese Erzählfreude macht das Buch auch für Erwachsene interessant.
Eine Kindergeschichte mit Moral
Am Ende der Geschichte wartet die Moral. Thorin, mittlerweile König mit Königreich und neuer Besitzer des Drachenschatzes, wurde von der Gier gepackt. Für den Schatz lässt er es sogar auf einen Krieg gegen die Menschen und Elben ankommen. Bilbo, durch die bestandenen Abenteuer zu einem ansehnlichen Dieb gereift, klaut mit dem Arkenstein das wertvollste Stück des gesamten Schatzes. Er übergibt diesen den Menschen und Elben als Pfand, um Thorin zu Verhandlungen zu zwingen. Der Dieb bestiehlt die eigene Gruppe, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen.
Es ist Bilbos Art, das Wesen der Hobbits, welche ihn zu dieser selbstlosen Tat veranlasst. Ihm ist die Möglichkeit, bald wieder zu Hause am heimischen Kamin zu sitzen und dort sein Leben zu genießen, wichtiger als eine reiche Belohnung. Was könnte er im Auenland schon mit solchen Reichtümern aus Gold, Silber und Edelsteinen anfangen, wie sollte er sie transportieren? Hinzu kommen noch die Gefahren durch Raub und Mord. Diese Absage an den schnöden Materialismus ist die Aufforderung an den Leser (oder den Zuhörer, falls Vorgelesen wird): Sei zufrieden mit dem, was du hast; sei ein bisschen mehr Hobbit.
Obwohl „Der kleine Hobbit“ ein sehr schön erzähltes Buch ist, bleibt es ein Kinderbuch. „Der Herr der Ringe“ ist das zu Recht bekanntere Werk.
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