28. März 2024

Eine gute Kapitalanlage

Eine gute Kapitalanlage

Letzten Sommer hatte ich wenig Glück mit den Büchern. Das Sachbuch „24/7. Gesellschaft ohne Schlaf“ klingt so spannend, wie es dann langweilig war. Der Roman „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ war trotz guter Kritiken doch eher ein Jugendroman und bei dem Buch „Die ganze Welt von Mad Men“ war schon an der Aufmachung zu erkennen, dass es bestenfalls für Kurzweil sorgen würde. Erst der Roman „Kapital“ des Briten John Lanchester, von dem ich nicht viel erwartet hatte, war dann richtig gut.

Lanchester begleitet darin rund 20 Figuren durch das London der Gegenwart. Kapitelweise erzählt er aus der jeweiligen Perspektive der Figuren. Sie stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten, gehören verschiedenen Generationen an und bewegen sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher ethnischer sowie religiöser Hintergründe. Sie bilden ein Panorama der britischen Gesellschaft und stehen so auch für die westliche Lebensweise ein. Zwar wirkt der Roman an manchen Stellen etwas gekünstelt, trotzdem entwirft Lanchester auf fast 800 Seiten ein ebenso überzeugendes wie kritisches Porträt unserer Gegenwartsgesellschaft.

Kritik an der westlichen Gegenwartsgesellschaft

Kritisch ist dieses Porträt, weil der Autor an den Lebenswegen und Schicksalen der Figuren zeigt, wie sehr sie ausschließlich nach Geld bzw. Kapital streben und darüber alles andere aus den Augen verlieren. Besonders das Leben und Streben der reichen Figuren richtet sich nach dem titelgebenden Kapital. Es scheint, je mehr Geld man hat, desto wichtiger wird es. Die reichen Figuren sind Banker oder Rechtsanwälte und haben Frauen und Kinder, um die sie sich nicht kümmern. Diese Figuren agieren nach dem Motto: „Kaufen macht glücklich“, was natürlich nicht funktioniert.

Denn egal, wie viel man kauft, es gibt immer jemanden, der mehr kaufen kann. Außerdem gibt es auch immer jemanden, der auch mit weniger Geld glücklicher ist als die Reichen mit dem vielen Geld.

Das sind die Hausmädchen, Handwerker und Laden-um-die-Ecke-Besitzer, die allesamt Immigranten sind. Sie, die ärmeren und armen Figuren, sind darum nicht unglücklicher. Auch ihr Leben hat Höhen und Tiefen, aber das individuelle Glück und das legt Lachesters Buch nahe, ist eine Frage zwischenmenschlicher Beziehungen und nicht des Kapitalbesitzes. Die strenge Fixierung der Reichen auf Geld wird als leere Kulisse aufgedeckt, wenn sich eine schlechte Ehe von Kaufrausch zu Kaufrausch rettet. Gleichzeitig kann man wenig Geld haben und glücklich mit Ehefrau und Brüdern am Tisch sitzen. Darin besteht die Moral des Romans: individuelles Glück lässt sich nicht kaufen.

Die Moral des individuellen Glücks

Es gibt weniges, was an diesem Buch nicht gelungen wäre. Zum Beispiel verfolgt es nicht den ganz hohen literarischen Anspruch. Zum Beispiel sind die Figuren typisiert, sie tun, was ihrer Figurenanlage entspricht und was man von Figuren ihrer Schicht erwartet. Es fehlen die Überraschungen.

Erzählt wird der Roman in einem nüchtern beobachtenden Stil, der zwar den Kopf anspricht, den Bauch aber vernachlässigt. Der Reiz besteht darin, dass der Roman auf diese Weise mit all seinen Figuren für den Leser offen bleibt, gleichzeitig blickt der Leser etwas unbeteiligt über das Panorama. So entsteht eine emotionale Distanz, die Lanchester nie ganz schließen kann, vielleicht auch nicht schließen will.

Insgesamt ist „Kapital“ ein tolles Buch, jedoch eines, was mit der Finanzkrise nur ganz am Rande zu tun hat. Anders als Titel und Umschlag vermuten lassen, gibt es weder einen thrillerhaften Plot um eine Finanzverschwörung noch scheint es Bezüge zu Karl Marx‘ „Das Kapital“ zu geben. Der Roman ist ein unterhaltsam zu lesendes Panorama der gegenwärtigen britischen Gesellschaft, welches sich leicht auf auf die restliche westliche Welt übertragen lässt – nicht mehr aber auch nicht weniger.

Der Kauf dieses Buchs ist eine gute Kapitalanlage. Nicht als finanzielles Investment, um nach mehr Kapital zu streben, sondern wegen der moralischen Botschaft und der geistigen Anregung.

John Lanchester: Kapital, Wilhelm Henye Verlag, München 2014  bei Amazon bestellen

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