29. März 2024

Ästhetische Bildung: Geschmack kennt keine Abkürzung

Bergala, Alain: Kino als Kunst. Filmvermittlung in der Schule und anderswo, Schüren Verlag, Marburg 2006, lizenziert durch die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, 144 Seiten

„Über Geschmack kann man nicht streiten“ lautet ein bekanntes Diktum, das sicherlich schon viele Streitereien entschärft hat, zugleich jedoch ästhetische Objekte der Beliebigkeit ausliefert. Der französische Autor und Regisseur Alain Bergala will in seinem Buch „Kino als Kunst. Filmvermittlung in der Schule und anderswo“ ästhetischen Geschmack bilden, damit man eben doch darüber streiten kann. Auf 144 Seiten sind seine Erfahrungen als Berater des französischen Bildungsministers zusammengefasst.

Ästhetische Bildung heißt, einen individuellen Geschmack zu bilden

Entgegen dem Sprichwort kann Geschmack sehr wohl ausgebildet werden: mit viel Zeit, Geduld und Anschauung am Gegenstand. Nach Bergala käme man dem Kino als Kunst näher, wenn in jeder Schule ein Grundstock von einhundert Filmen angelegt würde, dem die Schüler in ihrer Schülerlaufbahn immer wieder begegneten. „Nicht die Filme sollen wechseln, sondern – je nach Reifegrad, Bildungsstand und Analysefähigkeit – die Art, sich ihnen zu nähern.“ Im permanenten und wiederholten Umgang mit diesen Filmen, genannt ästhetische Bildung, würde sich dann Geschmack herausbilden. Einen kürzeren, bequemeren Weg gibt es nicht.

Kino muss als Kunst erlebt werden

In „Kino als Kunst“ heißt es außerdem, dass Kinobildung auch Kunstbildung sei. In der Kunst wird das Gewohnte durch etwas Ungewohntes geprüft und neue Sichtweisen werden eröffnet. Hierfür muss im Schulbetrieb Zeit und Raum geschaffen werden, denn „Kunst wird nicht unterrichtet, man begegnet ihr, man experimentiert mit ihr.“ Für diese Experimente ist im Regelunterricht viel zu selten die Zeit.

Zur Kunstbildung gehört auch die Unterscheidung zwischen der „Pädagogik des Zuschauers“, die zur kritischen Rezeption anregen, und der „Pädagogik der praktischen Realisierung“, die zum Verstehen des Schaffensprozesses führen soll. Während erstere durch verschiedenste Formen von Analyse und Interpretation etabliert ist, wird die „Pädagogik der praktischen Realisierung“ kaum eingesetzt. Hierbei versetzt man sich an den Punkt des Schaffensprozesses, als das Werk noch nicht fixiert war, der Film sich in der Schwebe der Entstehung befand. Die Schüler werden zu Filmemachern, indem sie überlegen, welche Schritte unternommen werden müssten, um das Werk fertigzustellen.

Schule muss sich ändern – ein Vier-Punkte-Plan

Um diese Schul-Vision Bergalas umzusetzen, seien Schulen in der Pflicht, sich in vier Punkten zu ändern: Sie müssen (1) die Möglichkeit zu Begegnung mit Filmen schaffen, die Schüler (2) bei der Begegnung begleiten, (3) den häufigen Umgang lehren und (4) schließlich Verbindungen zwischen den verschiedenen Filmen knüpfen. Besonders kritisiert Bergala, dass Film in der Schule hauptsächlich dazu dient, Anlass zur Diskussion über ein größeres Thema zu sein. Film wird demnach als Inhalt, nicht aber als Medium thematisiert. Diese vier Punkte können auf weitere Schulfächer übertragen werden. Begegnung schaffen, diese begleiten, den Umgang lehren und schließlich Verbindungen knüpfen – das sollte, genügend Zeit vorausgesetzt, zur neuen Regel werden.

Das Buch „Kino als Kunst“ ist eine gute Argumentationsbasis für all jene, die Film- und Medienpädagogik als einen integralen Teil des Schulunterrichts verstehen. Es bietet auch Denkanstöße, die das Lernen in der Schule auch fächerübergreifend positiv beeinflussen können. Eine Notwendigkeit des Unterrichts nach „Kino an Kunst“ lässt sich daraus jedoch nicht ableiten. Insgesamt zeigt sich, Geschmack lässt sich nicht lehren, aber Geschmack kann sich bilden. Man sollte den Schülern die Zeit geben, um einen individuellen Geschmack herauszubilden. Geschmack kennt keine Abkürzung. Mit einem gebildeten ästhetischen Geschmack kann man, anders als das Sprichwort sagt, sinnvoll streiten.

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